
Interview Yvonne Sachtje, Landesschlichterin
„Die sinkende Tarifbindung gibt sowohl den Sozialpartnern als auch der Politik immer mehr zu denken“
Sachlichkeit, Vertraulichkeit, Unparteilichkeit, zielstrebiges Handeln und Fingerspitzengefühl sind wichtige Kompetenzen, die Landesschlichterin Yvonne Sachtje für das traditionsreiche Amt benötigt, das schon seit über 70 Jahren besteht. Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland mit einer Institution für aktive Landesschlichtung. Die Amtsträgerin wird als unparteiische und neutrale Moderatorin dann aktiv, wenn es die Sozialpartner oder die Betriebsparteien gemeinsam wünschen. Durch Einschaltung der Landesschlichterin können Streiks bei Tarifauseinandersetzungen und arbeitsgerichtliche Konflikte begrenzt oder vermieden werden. Zu den Aufgaben der Landesschlichterin zählen auch der Vorsitz des Tarifausschusses NRW, vermittelnde Gespräche bei Maßnahmen der regionalen Wirtschaftsförderung und die Leitung des Tarifregisters Nordrhein-Westfalen.
Trotz der tarifpolitischen Offensive ist die Tarifbindung in Deutschland seit vielen Jahren rückläufig. Dabei gilt Nordrhein-Westfalen als das Land der Tarifverträge. Wie ist hier die aktuelle Entwicklung, auch im bundesweiten Vergleich?
Yvonne Sachtje: In Nordrhein-Westfalen arbeiten 62 Prozent der Beschäftigten unter einem Tarifvertrag. 35 Prozent der Betriebe sind tarifgebunden. Nordrhein-Westfalen nimmt damit bundesweit zwar nach wie vor einen Spitzenplatz ein. Allerdings ist die Tarifbindung auch hierzulande rückläufig. Im letzten Jahr ist sie um zwei Prozent gefallen.
Die sinkende Tarifbindung gibt sowohl den Sozialpartnern als auch der Politik immer mehr zu denken. Auf Bundesebene hat der Koalitionsvertrag das Ziel normiert, die Tarifbindung zu stärken. Die Politik kann dafür aber nur die Rahmenbedingungen schaffen. Gefragt sind in erster Linie die Gewerkschaften, die Konzepte für ihre Mitgliederwerbung und Mitgliederbindung erarbeiten müssen, und die Arbeitgeberseite, auf der es mittlerweile viele Verbände gibt, die eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung ermöglichen.
Ein wesentlicher Grund für den Rückgang der Tarifbindung liegt nach einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Strukturwandel. Danach gibt es vor allem im Dienstleistungssektor immer mehr kleinere Betriebe, in denen Gewerkschaften und Tarifverträge keine große Rolle spielen. Insbesondere neugegründete Unternehmen würden sich nicht mehr in gleichem Maße Arbeitgeberverbänden anschließen wie früher. Laut der IAB-Studie profitierten im Jahr 1996 in Westdeutschland noch 70 Prozent der Beschäftigten von Branchentarifverträgen, 2017 waren es nur noch 49 Prozent.
Die Diskussion, wie das System gestärkt werden kann, ist voll entfacht. Die große Bedeutung der Tarifverträge ist unbestritten. Sie sichern mit klaren Rahmenbedingungen den sozialen Frieden.
Wie kann die Tarifbindung in Deutschland wieder gestärkt werden?
Yvonne Sachtje: Dafür gibt es verschiedene Lösungsansätze. Im Gespräch ist zum Beispiel eine Reform der Regelungen für die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen. Die ohnehin schon geringe Zahl der Tarifverträge, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales oder den Länderministerien nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes im öffentlichen Interesse für allgemeinverbindlich erklärt werden, ist inzwischen auf gerade einmal 32 im Jahr 2016 gesunken. Im Jahr 2000 waren es noch 105 Allgemeinverbindlicherklärungen. Deshalb ist es sinnvoll, über eine weitere Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nachzudenken, da die getroffenen Regelungen im Rahmen des Tarifautonomiestärkungsgesetzes, so wie es sich bisher darstellt, nicht ausreichend waren.
Wesentliche Voraussetzung für eine AVE ist der gemeinsame Antrag beider Tarifparteien. Der Tarifausschuss, der aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer besteht, beschäftigt sich mit dem Antrag und gibt ein Votum ab. Die Arbeitgebervertreter haben in den Tarifausschüssen in der Vergangenheit häufiger als heute von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht, in einigen Fällen sogar gegen den Willen des betreffenden Branchenarbeitgeberverbandes gehandelt. Dies ist eine von mehreren Ursachen für den Rückgang der Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärung in den letzten 15 Jahren.
Hinzu kommt, dass neben einem möglichen Veto des Tarifausschusses auch Arbeitgeber gegen den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung klagen können. Ein anderer interessanter Lösungsansatz zur Stärkung der Tarifautonomie sieht steuerrechtliche Begünstigungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber vor. So sollen Unternehmen Anreize erhalten, in die Tarifbindung einzusteigen oder in sie zurückzukehren. In eine ähnliche Richtung zielt der Vorschlag, gesetzlich zu normieren, dass öffentliche Aufträge ausschließlich an Betriebe mit Tarifbindung vergeben werden dürfen. Hier gibt es unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern.
Das ausführliche Interview mit Yvonne Sachtje, erschienen im G.I.B.-Info 1_19 finden Sie hier.